Kostas Simitis wurde oft als langweiliger Buchhalter belächelt und von seinen innerparteilichen Rivalen angefeindet. Drei Mal wurde er von dem legendären griechischen Volkstribun Andreas Papandreou als Minister aus dem Kabinett entlassen. Doch jedes Mal schaffte es der kluge Jurist, ein unerwartetes Comeback zu feiern. Die größte Überraschung erlebte Simitis im Januar 1996, als er nur drei Tage nach dem Rücktritt des schwerkranken Papandreou zum neuen Premierminister und Vorsitzenden der sozialistischen Partei PASOK ernannt wurde.
In der Mitte der 1990er Jahre waren die griechischen Wähler nach mehreren Regierungskrisen und Finanzskandalen auf der Suche nach Stabilität und Verlässlichkeit. Offensichtlich war Simitis zur richtigen Zeit am richtigen Ort, um diesen Bedürfnissen gerecht zu werden.
Kaum zehn Tage nach seinem Amtsantritt sah sich Simitis mit einer der heftigsten Krisen seiner Regierungszeit konfrontiert. Nach einem Vorfall auf der unbewohnten Felseninsel Imia standen Griechenland und die Türkei kurz davor, in einen Krieg in der Ägäis zu geraten. Dank des Drucks der USA gelang es, die Gemüter auf beiden Seiten zu beruhigen. Simitis bedankte sich ausdrücklich für die US-Vermittlung und erntete dafür sowohl von der linken als auch von der rechten Seite viel Kritik.
Bis heute wird Simitis von rechtskonservativen Kreisen vorgeworfen, gegenüber der Türkei nachgiebig gewesen zu sein. In einem Beitrag für ein deutsches Journal für internationale Politik und Gesellschaft erklärte er 2008, dass es ihm damals darum ging, einen bewaffneten Konflikt zu vermeiden und den Status quo in der Ägäis wiederherzustellen.
In dieser heiklen Situation hatte der Sozialistenführer jedoch andere Prioritäten. Er wollte die Inflation und das Haushaltsdefizit deutlich senken, Griechenland auf den Weg zur Europäischen Währungsunion bringen, Zypern in die EU integrieren und Infrastrukturprojekte realisieren, die von seinen Vorgängern vernachlässigt worden waren. Dazu zählten unter anderem die U-Bahn in Athen, ein neuer Flughafen, die längste Hängebrücke der Welt im Peloponnes sowie die Egnatia-Straße, Griechenlands längste Autobahn.
Simitis konnte nahezu all seine Ziele erreichen. Sein Außenminister, der spätere Premier Giorgos Papandreou, leistete wichtige Vorarbeit für die Annäherung an die Türkei. Auf dem EU-Gipfel in Helsinki 1999 hob Griechenland schließlich sein Veto gegen die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auf, möglicherweise als Teil eines Deals für den späteren EU-Beitritt Zyperns.
Trotz seiner Erfolge wurden Simitis Amtszeiten immer wieder von Skandalen und Korruptionsvorwürfen überschattet. 2013 wurde sein Verteidigungsminister Akis Tsochatzopoulos wegen Geldwäsche und Bestechung zu 20 Jahren Haft verurteilt. Die Athener Richter kamen zu dem Schluss, dass er Bestechungsgelder für den Kauf von U-Booten aus Deutschland und Abwehrraketen aus Russland angenommen hatte.
Ebenfalls gestand Tassos Mandelis, der einst Verkehrs- und Transportminister unter Simitis war, 1998, Schmiergeld von Siemens erhalten zu haben. Jedoch war die Straftat bereits verjährt. Dennoch glauben selbst seine politischen Gegner nicht, dass Simitis persönlich in diese Skandale verwickelt war.
2002 war ein Höhepunkt in Simitis politischer Karriere, als Griechenland der gemeinsamen europäischen Währung beitreten konnte. Doch nur wenige Jahre später durchlebte das Land eine der schlimmsten Wirtschaftskrisen seiner Nachkriegsgeschichte und konnte nur durch Kredithilfen seiner Gläubiger vor dem Bankrott gerettet werden. In dieser Zeit entstand die Frage, ob die Griechen für den Euro bereit waren oder ob sie sich in die Euro-Zone geschummelt hatten.
Diese Vorwürfe wiesen Simitis und sein Zentralbankchef Jannis Stournaras entschieden zurück. In einem Artikel für die Süddeutsche Zeitung erklärten sie 2012, Griechenland habe seit Mitte der 1990er Jahre immense Anstrengungen unternommen, um die Konvergenzkriterien der EU-Währungsunion zu erfüllen und sei bereit für den Beitritt gewesen. Zudem seien auch andere Länder der Euro-Zone mit höheren Staatsdefiziten beigetreten.
Nikos Christodoulakis, der Finanzminister in Simitis’ Regierung, äußerte sich 2013 in einem Interview mit Spiegel Online deutlicher. Er stellte fest, dass die Konvergenzkriterien für alle Gründungsmitglieder des Euro flexibel ausgelegt wurden, da sonst nur die Niederlande und Luxemburg für den Euro qualifiziert gewesen wären. Auch Deutschland habe einen ähnlichen Weg eingeschlagen und staatliche Krankenhäuser nicht mehr zum öffentlichen Sektor gezählt, was das Defizit um mehrere Zehntelprozentpunkte nachträglich gesenkt habe.
Kostas Simitis wurde am 23. Juni 1936 in Piräus geboren und hatte eine enge Verbindung zu Deutschland. Er studierte Jura in Marburg und promovierte dort. Zudem erwarb er in London einen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften. Während der griechischen Militärdiktatur von 1967 bis 1974 leistete er Widerstand gegen das Regime, musste nach Deutschland fliehen und unterrichtete Jura an deutschen Universitäten. Im Exil lernte er Andreas Papandreou kennen und war an der Gründung der PAK beteiligt, einer Vorgängerorganisation der sozialistischen PASOK.
Auch sein Bruder Spiros Simitis, ein hoch angesehener Hochschullehrer, hinterließ seine Spuren. Er verstarb 2023 im Alter von 88 Jahren. 1970 sorgte Spiros Simitis in Hessen für das erste Datenschutzgesetz und war anschließend lange Zeit Datenschutzbeauftragter des Landes sowie Vorsitzender des Deutschen Ethikrats.
Von Jannis Papadimitriou