In einer provokativen Strategie testet Russland unter Putin die Reaktionen der NATO, indem es die estnische Stadt Narwa angreift. Dieses Szenario beschäftigt Experten wie den deutschen Militäranalytiker Carlo Masala, der vor den möglichen realen Folgen solcher Überlegungen warnt.
Würden wir unser Leben für Narwa riskieren? Wäre die NATO bereit, einen eskalierenden Konflikt oder sogar einen Atomkrieg mit Russland um eine Stadt mit 50.000 Einwohnern in Kauf zu nehmen?
Masala untersucht in seinem neuesten Buch das sogenannte Narwa-Szenario und äußerte sich in einem aktuellen Interview mit N-tv gemeinsam mit Militärhistoriker Sönke Neitzel zu dieser angespannten Lage. Die beiden Fachleute betonen, dass ein möglicher Sieg Russlands im Ukraine-Konflikt dazu führen könnte, dass es versucht, die NATO herauszufordern.
Das Narwa-Szenario beleuchtet die Gefahren, die am östlichsten Punkt der NATO, in der Stadt Narwa, bestehen. Diese Stadt liegt direkt an der Grenze zu Russland, und in diesem Gedankenspiel besetzen russische Truppen Narwa. Moskaus Ziel ist es, die NATO gemäß Artikel 5 des Nordatlantikvertrags zu einer Reaktion zu bewegen. Dieser Artikel besagt, dass ein Angriff auf ein NATO-Mitglied als Angriff auf alle Bündnispartner betrachtet wird.
Die NATO-Länder wären verpflichtet, dem angegriffenen Mitglied militärische Unterstützung zu leisten. In Masalas Szenario, das er für das Jahr 2028 entwirft, stehen die NATO-Staaten vor einem Dilemma: Reagieren sie und riskieren eine Eskalation, die bis zu einem Atomkrieg führen könnte? Oder unternehmen sie nichts und gefährden damit ihre Glaubwürdigkeit, was Putin ermutigen könnte?
Neitzel äußert, dass viele im Westen glauben, sie hätten ausreichend Zeit zum Aufrüsten. Er ist jedoch überzeugt, dass Putin opportunistisch handelt und die NATO testen wird. Deshalb sollten wir uns so verhalten, als könnte dies unser letzter Sommer in Frieden sein.
Masala stimmt ihm zu und weist darauf hin, dass die meisten europäischen Geheimdienste seit mehr als einem Jahr die gleiche Warnung aussprechen: Russland baut seine militärischen Kapazitäten wieder auf und strebt danach, stärker zu werden als 2022. Beide Experten denken über die möglichen Szenarien nach und warnen davor, dieselbe Falle wie 2021 zu tappen, als der Westen von Putins Truppen überrascht wurde.
Das Narwa-Szenario wurde auch in einem Roman des Bestsellerautors Tom Clancy thematisiert, und die Bundeszentrale für politische Bildung stellte 2024 die provokante Frage: Würden wir für Narwa sterben?
Putins Behauptung, Narwa gehöre historisch zu Russland, untermauert die Dringlichkeit dieser Überlegungen. Ein estnischer Sicherheitsbeamter äußerte, dass er nicht glaubt, die NATO-Verbündeten seien auf mögliche Entwicklungen in Narwa vorbereitet.
Obwohl NATO-Truppen in Estland stationiert sind und das Land sich intensiv auf einen potenziellen Angriff vorbereitet, betont der Beamte, dass das Problembewusstsein unter den Verbündeten nicht mit dem in Estland vergleichbar sei. Die Einsicht, die es 2008 bei der Georgien-Krise oder 2014 bei der Krim-Annexion gab, fehle heute ebenfalls.
Einwohner von Narwa berichten zudem von ständigen Provokationen und Sabotageakten aus Moskau, darunter Störungen bei der Satellitennavigation und überwachende Drohnen.
Masala erklärt, dass das Narwa-Szenario auch breitere öffentliche Diskussionen anstoßen soll, da in Deutschland viele einen russischen Angriff als übertrieben erachten. Realistisch betrachtet ist ein solcher Angriff jedoch durchaus denkbar.
Deshalb sind Masala und Neitzel skeptisch gegenüber dem Begriff Umgehen in Bezug auf Russland. Die Diskussion sei müßig, und während diplomatische Bemühungen wichtig seien, sei zu erwarten, dass Putin weiterhin militärische Optionen verfolgt. Die westlichen Prinzipien dürften nicht aufgegeben werden, da dies zur Akzeptanz einer russischen Dominanz führen würde.